Oktober 2023, genauer gesagt 28. Oktober 2023
Ich habe Herbstferien und mir vorgenommen, endlich DIE PLATTE fertigzumachen. Nach jahrelanger Pause habe ich diesen Sommer wieder Musik gemacht, vier Wochen lang habe ich in Co.Donegal, Irland die Sounds und O-Töne einer Dokumentation, die ich auf YouTube entdeckt hatte, zerhackt, ergänzt und zu neuen Tracks zusammengesetzt. ‚Dancing on Narrow Ground: Youth and Dance in Ulster‘ ist ein Dokumentarfilm von Desmond Bell für BBC Channel 4 aus dem Jahr 1995, der nie ausgestrahlt wurde.
Statt dessen sitze ich schon seit Tagen, seit dem 8.10., vor den KANÄLEN. Künstlerische Produktion ist mir nicht möglich. Ein paar Tage lang versuche ich zu verstehen, was passiert ist und passiert, ich versuche mich zu orientieren und eine Haltung zu finden ohne Reflex. Und ich versuche reflexhaftem Handeln zu widerstehen, was in meinem Fall bedeutet, mich zu äußern, auch wenn der Klops im Hals steckt und ausgehustet, gespuckt, gekotzt werden möchte. Schliesslich hatte ich auch fast 10 Jahre Sendepause auf meinem eigenen Kanal, jedenfalls in schriftlicher Form. Damit ist jetzt Schluss. Ich glaube, dass in jedem Text, den ich jemals geschrieben habe, folgender Satz vorkommt: ‚Man muss sich die Hände schmutzig machen, um gerade heraus zu kommen’. Ich schreibe ihn auch jetzt wieder. Hände schmutzig machen, heißt für mich, dass es in dieser Welt für (politisch denkende) Menschen kein schwarz-weiß Denken geben sollte, weil diese Welt komplex und das In-der-Welt-sein kompliziert ist und Genauigkeit erfordert. Dass man immer Fehler machen wird, auch wenn man es nicht möchte. Ich plädiere für die schwierigen Grauzonen. Für das Untersuchen und Überprüfen der eigenen Haltung, immer wieder neu. Aber auch dafür, Haltung zu entwickeln, zu haben und auch zu zeigen, wenn man soweit ist, oder auch, wenn es nötig ist. Ich halte es jetzt, an dieser Stelle, heute, für nötig. Ich verlinke diesen Text.
Überprüfte Haltung, neu gefundene Haltung, schön und gut, wie wird die jetzt praktisch, wie sitzt die in der Welt (unbequem wahrscheinlich und zwischen Stühlen), einsam vielleicht auch. Das fühlt sich nicht gut an, wenn auf der einen Kundgebung 10000 Leute sind, darunter viele Bekannte, und auf der anderen, der, der ich beigewohnt habe, weil ich es für das Angemessene hielt, höchstens 300, immerhin drei Bekannte. Das fühlt sich nicht gut an, denn auch wenn es nicht um Befindlichkeiten geht und schon gar nicht um meine, so habe ich doch Gefühle. Auch Gefühle des Zweifels – in dieser Unverhältnismäßigkeit (nicht Israels Verteidigung gegenüber den fortwährenden Angriffen der Hamas ist hier gemeint, wohlgemerkt, bitte keine Missverständnisse! – nein, ich meine die unausgewogenen Anwesenheitszahlen auf den Kundgebungen) zweifle ich. Ich denke ‚hier stimmt doch was nicht – bin ich doch fehlgeleitet, bin ich zu doch ‚falschen‘ Schlüssen gekommen? Denn ich ich stehe hier, mit den Wenigen, weil ich meinen Überzeugungen folge, die ich durch Überlegungen hergestellt habe, durch Informationsüberprüfung und Abwägung, durch Abgleich meiner früheren Erkenntnisse und Erfahrungen – und hoffe, dass andere das auch tun oder getan haben. Nicht ‚die anderen‘, aber dazu kann es schnell werden. Wo verläuft die Grenze, wo wird Freund zum Feind? Die meisten Menschen wollen ja ‚gut‘ sein, das ‚Richtige‘ tun, das habe ich schon weiter oben geschrieben. Ich betone das nochmal, ich unterstelle keine bösen Absichten, aber auch nicht endlos und bedingungslos – da sind sie wieder, meine Haltungsgrenzen. Wir alle können uns informieren, auch kauen und nochmal kauen auf dem Unverdaulichem, dem Unbekömmlichen und Unangenehmen. Wir alle sind fähig, zu überlegen, zu denken und zu Schlüssen zu kommen.
Aber mit dieser Schnelligkeit und Vehemenz? Glaub ich nicht.
Sehr schnell haben sehr viele Menschen beschlossen, dass der Krieg, der im Moment zwischen der israelischen Regierung und der Hamas stattfindet, ein Krieg ist, den Israel verschuldet hat. Durch seine Existenz. Durch seine Politik. Dass demzufolge dieser Krieg eine Befreiungskrieg der Palästinenser ist.
Dass das Massaker am 7.10., dass Juden und Jüdinnen vernichten sollte, und von der Hamas verübt worden ist, notwendig und richtig war.
Weil Israelis Kindermörder sind. Weil Israel einen Genozid verübt. Weil Israelis Nazis sind. Weil Israel kein Existenzrecht hat. Weil Israel weg muss.
10.000 in Berlin, 300.000 in London schreien ‚Israel’. Wen sie aber meinen, sind Jüd:innen.
Weil ‚die Juden‘ schuld sind, an Allem.
Das sind sie immer.
Ich überlege beim Schreiben, ob ich durch die Wiederholung, durch das Aufschreiben dieser Sätze, dazu beitrage, sie in der Welt ‚wahr‘ werden zu lassen. Aber ‚wahr‘ ist das Einzige, was sie NICHT sind. Diese Sätze, und daher möchte ich sie jetzt tatsächlich nicht noch einmal wiederholen, sind falsch. Diese Sätze sind Lügen, Propaganda, Hassrede.
Vor allem aber sind sie Eines: Zeugen für den Antisemitismus, der nie weg war in diesem Land, in Deutschland. Hier wurde die Ideologie des Antisemitismus, der zwar in ganz Europa verbreitet war und ist, als Massenmord, als Holocaust umgesetzt. 55.000 Jüd:innen allein aus Berlin sind ermordet worden.
Unter den am 7.10.2023 ermordeten Menschen waren höchstwahrscheinlich auch Nachkommen dieser ermordeten BerlinerInnen. Auch vor meinem Nachbarhaus ist ein ’Stolperstein’ verlegt. Von meiner Wohnung aus kann man den Nachbarn im Hinterhaus gut in die Küche schauen. Ich glaube kein Wort des ‚wir haben nichts gewusst.‘
Ebenfalls in meiner Nachbarschaft ist ein schöner kleiner Laden, erst vor kurzem war ich da. Was ich nicht gewusst habe:
‚Im Jahre 1884 eröffnet der Wiener Magier Josef Leichtmann in der Friedrichstraße, nahe des Metropol-Theaters (heute Admiralspalast), den Zauberladen „Zauberkönig“, der sich schnell zu einer beliebten Institution entwickelt. Seine vier Töchter, die „magischen Schwestern“ bauen sein Zauberimperium aus und gründen gemeinsam mit ihren Ehemännern weitere Zauberhäuser in Hamburg, München und Köln. Im Jahre 1906 übernimmt Leichtmanns älteste Tochter Charlotte den „Zauberkönig“ und führt die Geschäfte bis in die Dreißiger Jahre gemeinsam mit ihrem Mann Arthur Kroner und ihrer Tochter Meta erfolgreich fort. 1938 wird die Familie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft gezwungen ihren Laden abzugeben, die Angestellte R. Sch. übernimmt daraufhin die Geschäfte. 1941 oder 1942 wird Meta nach Auschwitz deportiert, ihre Eltern trinken im Jahre 1943 aus einem Becher mit Gift.‘
Ich will R. Sch., der ehemaligen Angestellten, nichts unterstellen, aber schnell ist sie von der Angestellten zur Chefin avanciert.
Egal, wo ich hinschaue und hinlese, ein bisschen herumkratze, an der Oberfläche der Geschichte, tauchen sie auf, diese Geschichten. Geschehnisse. Tatberichte von Mord. Auf der Sonnenalle, da ist jetzt ein Fußballplatz, ein KZ-Aussenlager von Sachsenhausen. Überall in der Stadt die kleinen Geschäfte, die erst von Enteignungen, später von Zwangsarbeit profitiert haben. Nee, ihr Leute, schuldig fühle ich mich nicht. Schuldig gefühlt hat sich meine Mutter, geboren 1932 in Breslau/Wroclaw. Weil sie bei den Deportationen ihrer Klassenkamerad:innen zugeschaut hat, mit 10, 12 oder wie auch immer. Mein Vater ist Jahrgang 1941. Dessen Vater, Kanonenfutter an der Ostfront, gefallen 1942, hat Fotos geschickt, Leichenhaufen an Strassen, untertitelt ‚russische Untermenschen‘. Nein, gut fühlt sich das sicher nicht an, nicht für meinen Vater. Und der sieht gerade klar, der kann problemlos erkennen, dass es um das Existenzrecht Israels geht, dass es sich um Antisemitismus handelt. Die Generation meiner Eltern ist die mit den aktiven Tätereltern. Ich fühle mich nicht schuldig und Komplexe habe ich höchstens aus anderen Gründen.
Angewidert bin ich.
Nicht von meinen Eltern.
Aber von euch da auf der Strasse, in den Talkshows, auf Facebook, X und Instagram, vor dem Auswärtigen Amt, unter den Offenen Briefen, in den Universitäten, den Kultureinrichtungen, den Kneipen, Konzertorten, Klubs, die ihr es nicht schafft, ganz einfach mal zu sagen, das der Terror der Hamas auf die Vernichtung von Jud:innen abzielt, auf die Vernichtung Israels und selbstverständlich durch nichts zu entschuldigen und zu relativieren ist!
Am 8.10. habe ich noch gedacht, dass es eine Selbstverständlichkeit ist, Emphase mit den Opfern der Hamas zu haben. Jetzt, 4 Wochen später, zeigt es sich, dass ganz das Gegenteil der Fall ist oder zu sein scheint.